Charlotte Mason
Jahrzehntelang war über Kindheit und Jugend der Britin Charlotte Mason wenig bekannt – die erste Biographie (1960), verfasst von ihrer ehemaligen Schülerin, Essex Cholmondeley, beinhaltet nur wenige lose Eckdaten und Informationen. Erst jüngere Forschungen der britischen Autorin Margarete Coombs (2015) geben den Blick auf die Herkunft und das geistige Umfeld der bemerkenswerten Pädagogin und Philosophin frei.
Charlotte Maria Mason erblickte am 1. Jänner 1842 im kleinen nordwalisischen Hafendorf Garth das Licht der Welt. Ihre Eltern waren die katholische Irin Margarete Shaw und der Gentleman Joshua Mason Esq., der einer angesehenen nordirischen Quäkerfamilie entstammte und in Liverpool als erfolgreicher Händler tätig war. Für Charlottes Vater war es bereits die dritte Ehe. Seine ersten beiden Ehefrauen hatten nach ihrem Tod insgesamt elf Halbgeschwister hinterlassen, von denen einige selber bereits Familien gegründet hatten. Sicherlich hatte diese großfamiliäre Situation prägenden Einfluss auf Charlotte, denn sie verbrachte als Kind immer wieder viel Zeit bei ihren älteren Halbschwestern und deren Familien.
Mason gewann für sich ein „Königliches Stipendium“ für das Home and Colonial Training College in London, wo sie am 25. März 1859 ihre Ausbildung begann. Prägend für ihr weiteres Leben sollten auch die am Ho and Co gewonnenen Freundschaften zu Gleichgesinnten werden, auf deren Hilfe und Unterstützung sie in späteren Jahren bei einigen ihrer ambitionierten Vorhaben bauen durfte. Nach ihrem Abschluss war Mason zunächst im südenglischen Worthing als Lehrerin tätig.
1886 wurde der erste ihrer insgesamt sechs pädagogischen Werke unter dem Namen „Home Education“ herausgegeben. Der historische Hintergrund dieser Schrift wirft Licht auf den Zusammenhang zwischen Charlotte Mason und dem Hausunterricht:
Die Bildungspflicht wurde in England 1876 eingeführt, jedoch übernahm der Staat die Kosten für den Schulbesuch erst ab 1891. Vor diesem Zeitpunkt befanden sich viele arme Familien in einem Dilemma. Sie waren zwar verpflichtet, ihren Kindern eine Bildung zu bieten, oft aber nicht in der Lage, das Geld für einen Schulbesuch aufzubringen. Um diesen Kindern Zukunftschancen zu bieten, unterstützte Mason neben ihrer schulischen Tätigkeiten Eltern, die bereit waren, die Bildung ihrer Kinder in Eigenleistung zu verwirklichen. Im Jahr 1887 gründete Mason in Zusammenarbeit mit Eltern die Parents‘ Educational Union (PEU; später: Parents National Educational Union, PNEU) in Bradford. Insbesondere Mädchen profitierten von Masons Initiative. Ihr Band „Home Education“ wurde auch in sozial bessergestellten Kreisen hochgeschätzt. Noch heute wird er gerne von „Homeschoolern“ herangezogen.
Zu Besuch bei einer Freundin, lernte Mason die nordenglische Ortschaft Ambleside näher kennen und lieben. 1892 gründete sie dort das House of Education, eine höchst erfolgreiche und beliebte Ausbildungsstätte für Lehrerinnen. Das kleine Dorf Ambleside am Lake Windermere wurde so zum Namensgeber einer bis heute bekannten pädagogischen Philosophie.
Wiederkehrende Phasen gesundheitlicher Probleme fesselten Charlotte zwar immer wieder ans Bett. Trotzdem liebte sie es, zu reisen, um sich kulturell weiterzubilden. Besonders ihre Liebe zur Kunst und die Förderung von Kreativität nimmt in ihrem Werk eine wichtige Rolle ein.
Über die Jahre kamen weitere Bände ihrer Reihe heraus: (Nr. 2) Parents and Children (1896), (Nr. 3) School Education (1904), (Nr. 4) Ourselves (1905), (Nr. 5) Some Studies in the Formation of Character (1906), sowie ein dichterisches Werk über das Leben Christi: The Saviour of the World (1908 -1914). Die bestehenden Bände der Serie wurden mehrmals neu aufgelegt. 1921, zwei Jahre vor ihrem Tod, vollendete sie den letzten und sechsten Band dieser Reihe, An Essay Towards a Philosophy of Education, der aber erst posthum im Jahr 1925 gedruckt wurde.
Mason starb 81-jährig am 16. Jänner 1923 als bekannte und geachtete Persönlichkeit der pädagogischen Kreise Englands. Obwohl ihre Mutter Katholikin und ihr Vater Quäker waren, stand sie der anglikanischen Kirche nahe: Ihr Grab ist daher am anglikanischen St. Mary’s Friedhof in Ambleside zu finden. Bis zu ihrem Tod wirkte sie als Direktorin des House of Education in Ambleside. Die Parents National Education Union bestand bis 1989 weiter. Einige Schulen in England tragen immer noch die Philosophie und den Namen ihrer Gründerin weiter.